Fahrbericht Experia (Pressevorführer) - mit Bildern
Verfasst: Mi 21. Sep 2022, 22:44
Moin,
Mein lokaler Energica-Händler JCB aus Celle hat mich vor einiger Zeit angesprochen, dass er einen Vorführer aus der Frühjahrs-Veranstaltung für Kundenfahrten reinbekommt. Heute Termin gehabt und 1,5 Stunden gefahren.
1. Ersteindruck / Qualitätsanmutung
Da steht sie nun. Wirkt auf mich subjektiv doch einen Hauch kleiner als gedacht. Habe den Termin mit einem anderen Interessenten gehabt - als der auf dem Moped saß, hat man die Größenverhältnisse gesehen. Kann einem Fahrer aber eigentlich auch egal sein .
Und tatsächlich täuscht es auch, hier mal ein Vergleich mit meiner alten R1200GS K25:
Länge: Experia 2132mm - GS 2210mm
Sitzhöhe: Experia 847mm - GS 850mm, untere von zwei Stufen
Radstand: Experia 1513mm - GS 1507mm
Ich sag mal: Die spielt in der GS-Liga, was die Maße angeht - nur nicht beim Gewicht (Experia 260kg, GS 230kg).
So, mal draufgeschwungen. Sitzergonomie passt, der Sitz ist straff aber angenehm und mit einem matten rutschhemmenden Material bezogen. Man kann ein paar cm vor- und zurückrücken. Fußrasten und Lenker sind da, wo ich sie erwartet habe. Auf ner SR/S habe mich von der Position her gefühlt wie auf dem Klo - Oberkörper nach vorne, aber leider auch die Füße. Ist erheblich besser bei der Experia - passt 1a für einen SUV auf zwei Rädern (Tourenmotorrad, Reiseenduro, Green Tourer… nennt sie, wie Ihr wollt).
Der Lenker ist mit 867mm schön breit, komischerweise hat meine Ribelle einen ähnlich breiten Lenker, lt. Datenblatt sogar 870mm. Die GS ist „über Spiegel“ 915mm breit - ich weiß jetzt nicht mehr, ob die Spiegel wirklich breiter waren als die Griffe?! Passt an der Experia jedenfalls hervorragend und man hat einen guten Hebel.
Die Armaturen sind jene von Domino, die auch alle anderen Energicas nutzen. Aprilias und Zeros SR/S und SR/F haben übrigens links das gleiche Teil, rechts aber was anderes. Es ist halt ein namhafter Italienischer Zubehöranbieter, wo sich etliche Hersteller bedienen. Die Qualität ist ordentlich, da ist aber noch Luft nach oben. Beispielsweise wird der Druck auf die Blinkerrückstellung im Armaturengehäuse im Bogen um den Lenker zum Schalter geleitet, welcher im Gehäuse nach vorne gerichtet liegt. Das fühlt sich ein wenig indirekt an. Die direkte Haptik meiner 2013’er Honda NC700X ist besser.
Die Spiegel sind hochwertig verarbeitet und sehen klasse aus - kennt man schon, die kommen aus dem Teileregal bei Energica. Obschon der Lenker meiner Ribelle gleich breit ist, sieht man auf der Experia weniger Schulter und mehr rückwärtiger Verkehr.
Fußrasten sind wieder massiv ausgeführt, angenehm breite Auflagefläche und erstmalig für Energica gummiert. Man erkennt aber auch Zacken, ich hab leider nicht geschaut, ob man die Gummis einfach abschrauben kann. Zudem habe ich auf diversen Probefahrt-Videos zwei farbliche Varianten entdeckt - einmal Bronze und dann das hier vorgefundene Schwarz. Also, gegen die Bronze-Ausführung in der Serie hätte ich nichts... da müssen wir abwarten, was da kommt.
So, jetzt kommen Punkte, wo ich wirklich die Flöhe husten höre bzw. sehe. Bin bei diesen Dingen sicher pingeliger als der Durchschnittsmensch - aber es ist mir halt aufgefallen:
Sämtliche Rahmenschweißähte scheinen von Schweißlehrlingen angefertigt worden zu sein - alles andere als gleichmäßig. Kein Vergleich zu meiner Ribelle, auch die aktuellen Aussteller (Ribelle und EsseEsse) beim Händler haben deutlich sauberere Nähte. Energica kann es also - was sie aber leider bei der Vorserie nicht demonstrieren. Zudem habe ich insgesamt kaum noch aus dem Vollen gefräste Teile gesehen. Man sieht, dass Energica hier den Sprung zum echten Serienhersteller vollzogen hat. Vergleich Ribelle: Lenkerklemme, Fußrastenanlage Fahrer & Beifahrer, Bremssattelaufnahme hinten… alles gefräst. Bei der Experia alles gegossen. Es wirkt halt nicht mehr so exklusiv wie an der Ribelle - ist aber durchaus hochwertiger Standard. Aber immer noch liebevoll gelasert: Der Heckausleger/Kennzeichenträger .
Bei der vorderen rechten Kunststoffverkleidung ist die Passung unsauber und es gibt einen auffälligen Versatz, aber mochmal: Vorserie! Hier würde ich erwarten, dass das für die Serie abgestellt ist. Der Lack macht einen „dünn rübergejauchten“ Eindruck. Dass die Kunststoff-Auskleidung um den Lenkkopf noch nicht genarbt sondern strichpolierte Oberflächen hat, liegt zweifellos auch noch an der Vorserie. Da kommt sicher noch eine einfache Erodiernarbe drauf, das wirkt dann erheblich wertiger. Es gibt viele recht großflächige Kunststoffteile, die eher billig klingen, wenn man mit dem Fingernagel dagegen trommelt. Nicht, dass ich jetzt der große Finger-Trommler wäre, es sind aber alles Punkte, wo es doch mit wenig Aufwand besser geht…
Leider geht es bei der Elektrik weiter: Man sieht die orangen Kabel, was ja an- und für sich okay ist. Aber sie sind doch recht lieblos verlegt. Zudem rechtsseitig Kabel, wo die Schutzhülle mehrere cm vor dem Stecker endet. Und ein, tja, was war es… Codierstecker? Da sah man einzelne Litzen. Es hat mich an alte Klischees über Italiener und Elektrik erinnert.
So, ab hier wird es nur noch besser!
2. Die ersten Meter
Erst mal im Menü volle Leistung und volle Reku eingestellt, und dann… Herrlich sattes Drehmoment! Kenn ich von der Ribelle, die davon noch ne Schüppe mehr hat. Und dann das Handling - ein Traum! Tiefer Schwerpunkt, gut ausbalanciert, absolut neutrales Einlenkverhalten. UND GENAU DAS HATTE ICH IN MEINEN 3 JAHREN ENERGICA VERMISST. Die Experia fährt sich auf den ersten Metern quasi wie ein Mountainbike. Gedacht, gelenkt, gefahren. Dieses Verhalten bleibt bis etwa 110km/h gleich, soweit eben wie ich es testen konnte. Die Ribelle liegt zwar noch satter auf der Straße, sie braucht aber mindestens 40 oder 50km/h, um danach erst neutraler zu werden. Und sie lenkt sich nicht so leicht. Die Experia zeigt das spielerisch-leichte Lenkverhalten** quasi aus dem Stand schon. Das konnte auch meine GS nicht besser!
** siehe Kommentar zum LKL unter 4.
3. Sound (mancher nennt es „Geräusch“)
Energicas haben eine untersetzte e-Maschine mit gerader Stirnrad-Verzahnung. So ein Getriebe macht ein charakteristisches Geräusch. Persönlich würde ich mir wohl Nabenmotoren wünschen, weil elektrisch fahren verbinde ich immer noch mit Geräuschlosigkeit. Aber beim Fahrer kommt doch weniger an, als bei den Passanten. Vor mir hat jemand eine 3min-Fahrt unternommen. Ich stand mit drei anderen bei der Abfahrt daneben - wir schauten uns an und ich sagte dann: „Kennt man eine, kennt man alle. Identische Lautstärke.“. Gemeint war der Bezug zu meiner Ribelle. Aber wie gesagt - als Fahrer ist es subjektiv ein deutlicher Fortschritt. Sie klingt eindeutig leiser. Ich habe mich bei der Ribelle nicht nur an das Geräusch gewöhnt - ich mag es mittlerweile auch (hat aber gedauert ). Klanglage ist gleich, nur leiser.
4. Fahrwerk
Sensibel ansprechend mit sehr geringen Losbrechkräften, und mit 150mm gleich mal 30mm mehr Federweg als das Öhlins-Fahrwerk der Ribelle. Und das ist auf Deutschlands Nebenstraßen auch sehr gut brauchbar! Beim Bremsen taucht die Gabel sehr deutlich ein, da müsste man mal die Druckstufe prüfen. Zug- und Druckstufe sind übrigens getrennt an der Gabel einstellbar, je eines pro Seite. Das Federbein hinten war unauffällig und tat seinen Dienst. Allgemein konnte ich hier nicht viel testen, dafür brauche ich mehr Zeit und unterschiedlichere Straßen. Bin halt Amateur . Auf den Felgen waren Pirelli Scorpion Trail 2 aufgezogen. Die kenne ich schon von meiner BMW, eine mit sechs Jahren vielleicht etwas ältere Reifenkonstruktion – ist aber auf jeden Fall noch up to Date und man kann es damit ordentlich krachen lassen. Zudem haben sie einen guten Nässe-Grip und man muss sie nicht großartig warm fahren.
Der Lenker wirkte auf mich sehr direkt. Jede kleine Bewegung kam unmittelbar an. Ich bin da schon so einige Motorräder gefahren, die sich indirekter oder gar teigiger gelenkt haben. Nur leider war das Lenkkopflager einen Hauch zu fest angezogen - merkt man besonders beim freihändigen Fahren. Ich habe da traumatische Erlebnisse mit meiner früheren EsseEsse 9 und bin daher diesbezüglich sensibel… Wenn das penibelst eingestellt ist, dann fährt sie sich sicherlich noch neutraler (geht das überhaupt?!).
Gehört zwar nicht hierher, ist aber irgendwo auch Teil des Fahrwerks (na ja, doch eher des Rahmens): Der Ständer. Der Vorführer hatte nur den Seitenständer, im Konfigurator kann man aber deutlich einen Hauptständer erkennen. Und da, wo der Hauptständer verschraubt ist, hat der Vorführer Befestigungsaugen. Mein Händler konnte nicht sagen, ob da nun der Hauptständer kommt, oder nicht. Tatsache ist: Er ist im Zubehör jetzt Stand September 2022 gar nicht gelistet. Mein Tipp: Hauptständer wird es im Zubehör von Energica selbst geben.
5. Restliche Ausfahrt
Das Fahren war wirklich ein Gedicht – sie ist absolut souverän zu bewegen und über jeden Zweifel erhaben. Dazu, ich erwähnte es oben bereits, fährt sich wirklich wie ein Mountainbike. Die 260 Kilo mögen erst mal abschreckend klingen, sobald sie rollt, ist davon aber nichts mehr zu spüren. Beschleunigung musste ich natürlich auch mal testen – da steht sie der Ribelle eigentlich nicht viel nach. Auf dem Papier hat sie zwar lediglich 115 Newtonmeter anstelle 215 bei der Ribelle (okay, das ist auch abartig viel ), aber ich frage mich, ob hier nicht auch eine möglicherweise andere Übersetzung mit rein spielt. Jedenfalls ist das, was davon auf der Straße ankommt, *fast* ebenbürtig. Rekupertation beziehungsweise Motorbremse ist hingegen doch deutlich weniger als bei der Ribelle. Das mag aber auch eine Konfigurationsfrage sein, was sich mit der Serie nochmal ändert. Mit ein wenig vorausschauendem Fahren können die mechanischen Bremsen auf einer normal gefahrenen Tour ungenutzt bleiben. Eigentlich schade, weil die Brembos wieder ein absolutes Gedicht sind! Sehr fein dosierbar, sehr knackiger Druckpunkt und insgesamt wenig Handkraft - das mag ich sehr! Mit dem ABS ist Energica wieder eine Entwicklungs-Generation weiter, zumindest sind die Regelintervalle feiner, als sie ohnehin schon bei der Ribelle waren. Vollbremsung von 100km/h sind ohne Angst machbar, das Bike bliebt gut beherrschbar. Ach ja, bevor ich es vergesse: die serienmäßigen Heizgriffe sind genauso wie bei den anderen Energica-Modellen eigentlich zu schwach. Die werden leider nicht richtig heiß. Ich kann nicht verstehen, warum die dann noch im Menü in drei Stufen RUNTER-regelbar sind. Auf kleinster Stufe merkt man nix, nada, niente.
6. Reichweite / Verbrauch
No comment. Weiter kommt momentan keine Elektrische. Hatte bei 20°C und nach eher aggressiver Fahrweise Landstraße bei 82% SOC angezeigte 212km Restreichweite (also 258km bei 100%). Noch Fragen??
6. Preis
Man kann es nicht schönreden: Das ist einfach scheißviel Geld! Muss jeder für sich wissen, ob man so viel in sein Hobby investiert.
Es macht daher keinen großen Sinn, den Preis zu zerlegen oder verteidigen zu wollen. Es gibt aktuell die Energica nur als Launch Edition mit sinnvoller und vernünftiger Serienausstattung. Bei der Preisentwicklung, den die gesamte Automobilindustrie zur Zeit mitmacht, weiß ich nicht, was sich 2023 so tun wird. Billiger wird es jedenfalls nicht. Und ich erspare mir hier auch den Vergleich zur Zero DSX/R - das würde für Zero nur unvorteilhaft enden (mit Koffersatz und max. Ladelösung 12kW liegt sie noch drüber). Und darum geht es hier ja auch gar nicht.
Und macht bitte nicht den 393EUR-Fehler, dass ihr die Keyless Option wählt. Das kann Energica einfach nicht. Keyless Go funktioniert manchmal nur nach dem zweiten Tastendruck. Oder dem dritten. Oder manchmal eben auch sofort. Oder man bekommt alle 20km den Fehler “key not in range” und muss mit Druck auf okay quittieren. Bezieht sich alles aber auf die Ribelle, die Experia von heute hatte Schlüssel und es ist natürlich auch gut möglich, dass das "Ribelle-Problem" mit der Experia verschwunden ist.
7. Resümee
Hab ja oben schon einiges zur Verarbeitungsqualität geschrieben. Das war sicherlich unfair, da es sich hier um ein Vorserienfahrzeug handelt. Und es ist auch logisch, dass man mit viel mehr Verkleidung natürlich auch mehr Kunststoff um sich herum hat und es dann schneller wie ein Plastikbomber wirkt. Das Design gefällt mir persönlich aber sehr gut – ich sehe da viel Ähnlichkeit mit der Ducati Multistrada. Design können die Italiener eben gut! Trotzdem ist sie immer noch eigenständig genug. Die Seitenansicht finde ich weniger gelungen. In dieser Perspektive betonen die Verkleidungen rund um den Akku dessen Rechteckigkeit. Nun ja, das ist halt so – ich weiß nicht, ob man das Design noch gefälliger hätte hinbekommen können. Bei meiner Ribelle sieht es zumindest ein wenig dynamischer aus und die Konturen des Akkus sind optisch besser kaschiert. Trotzdem finde ich persönlich das Gesamtpaket sehr gefällig.
Enerigca‘s Peak in Bezug auf Qualitäts-Anmutung stellt die Experia in meinen Augen mit dem Vorführer noch nicht so ganz dar, das verkörpert aktuell schon eher die Ribelle.
Der Umstieg ist trotz allem für mich wirklich eine Überlegung wert… mal sehen, ob ich die Ribelle angemessen verkauft bekomme UPDATE: Verkauft
That’s it for the day! So long!!
PS: Habe einige Bilder gemacht, besonders von den von mir kritisierten Stellen. Ich schreibe das hier auf dem iPad, schon das erste Bild wird mir beim Versuch des Einfügens als zu groß abgelehnt. Habe jetzt wirklich keine Lust mehr, auch noch an den Bildern rum zu basteln, bitte seht es mir nach! Vielleicht hole ich das die Tage mal vom Mac aus nach.
Mein lokaler Energica-Händler JCB aus Celle hat mich vor einiger Zeit angesprochen, dass er einen Vorführer aus der Frühjahrs-Veranstaltung für Kundenfahrten reinbekommt. Heute Termin gehabt und 1,5 Stunden gefahren.
1. Ersteindruck / Qualitätsanmutung
Da steht sie nun. Wirkt auf mich subjektiv doch einen Hauch kleiner als gedacht. Habe den Termin mit einem anderen Interessenten gehabt - als der auf dem Moped saß, hat man die Größenverhältnisse gesehen. Kann einem Fahrer aber eigentlich auch egal sein .
Und tatsächlich täuscht es auch, hier mal ein Vergleich mit meiner alten R1200GS K25:
Länge: Experia 2132mm - GS 2210mm
Sitzhöhe: Experia 847mm - GS 850mm, untere von zwei Stufen
Radstand: Experia 1513mm - GS 1507mm
Ich sag mal: Die spielt in der GS-Liga, was die Maße angeht - nur nicht beim Gewicht (Experia 260kg, GS 230kg).
So, mal draufgeschwungen. Sitzergonomie passt, der Sitz ist straff aber angenehm und mit einem matten rutschhemmenden Material bezogen. Man kann ein paar cm vor- und zurückrücken. Fußrasten und Lenker sind da, wo ich sie erwartet habe. Auf ner SR/S habe mich von der Position her gefühlt wie auf dem Klo - Oberkörper nach vorne, aber leider auch die Füße. Ist erheblich besser bei der Experia - passt 1a für einen SUV auf zwei Rädern (Tourenmotorrad, Reiseenduro, Green Tourer… nennt sie, wie Ihr wollt).
Der Lenker ist mit 867mm schön breit, komischerweise hat meine Ribelle einen ähnlich breiten Lenker, lt. Datenblatt sogar 870mm. Die GS ist „über Spiegel“ 915mm breit - ich weiß jetzt nicht mehr, ob die Spiegel wirklich breiter waren als die Griffe?! Passt an der Experia jedenfalls hervorragend und man hat einen guten Hebel.
Die Armaturen sind jene von Domino, die auch alle anderen Energicas nutzen. Aprilias und Zeros SR/S und SR/F haben übrigens links das gleiche Teil, rechts aber was anderes. Es ist halt ein namhafter Italienischer Zubehöranbieter, wo sich etliche Hersteller bedienen. Die Qualität ist ordentlich, da ist aber noch Luft nach oben. Beispielsweise wird der Druck auf die Blinkerrückstellung im Armaturengehäuse im Bogen um den Lenker zum Schalter geleitet, welcher im Gehäuse nach vorne gerichtet liegt. Das fühlt sich ein wenig indirekt an. Die direkte Haptik meiner 2013’er Honda NC700X ist besser.
Die Spiegel sind hochwertig verarbeitet und sehen klasse aus - kennt man schon, die kommen aus dem Teileregal bei Energica. Obschon der Lenker meiner Ribelle gleich breit ist, sieht man auf der Experia weniger Schulter und mehr rückwärtiger Verkehr.
Fußrasten sind wieder massiv ausgeführt, angenehm breite Auflagefläche und erstmalig für Energica gummiert. Man erkennt aber auch Zacken, ich hab leider nicht geschaut, ob man die Gummis einfach abschrauben kann. Zudem habe ich auf diversen Probefahrt-Videos zwei farbliche Varianten entdeckt - einmal Bronze und dann das hier vorgefundene Schwarz. Also, gegen die Bronze-Ausführung in der Serie hätte ich nichts... da müssen wir abwarten, was da kommt.
So, jetzt kommen Punkte, wo ich wirklich die Flöhe husten höre bzw. sehe. Bin bei diesen Dingen sicher pingeliger als der Durchschnittsmensch - aber es ist mir halt aufgefallen:
Sämtliche Rahmenschweißähte scheinen von Schweißlehrlingen angefertigt worden zu sein - alles andere als gleichmäßig. Kein Vergleich zu meiner Ribelle, auch die aktuellen Aussteller (Ribelle und EsseEsse) beim Händler haben deutlich sauberere Nähte. Energica kann es also - was sie aber leider bei der Vorserie nicht demonstrieren. Zudem habe ich insgesamt kaum noch aus dem Vollen gefräste Teile gesehen. Man sieht, dass Energica hier den Sprung zum echten Serienhersteller vollzogen hat. Vergleich Ribelle: Lenkerklemme, Fußrastenanlage Fahrer & Beifahrer, Bremssattelaufnahme hinten… alles gefräst. Bei der Experia alles gegossen. Es wirkt halt nicht mehr so exklusiv wie an der Ribelle - ist aber durchaus hochwertiger Standard. Aber immer noch liebevoll gelasert: Der Heckausleger/Kennzeichenträger .
Bei der vorderen rechten Kunststoffverkleidung ist die Passung unsauber und es gibt einen auffälligen Versatz, aber mochmal: Vorserie! Hier würde ich erwarten, dass das für die Serie abgestellt ist. Der Lack macht einen „dünn rübergejauchten“ Eindruck. Dass die Kunststoff-Auskleidung um den Lenkkopf noch nicht genarbt sondern strichpolierte Oberflächen hat, liegt zweifellos auch noch an der Vorserie. Da kommt sicher noch eine einfache Erodiernarbe drauf, das wirkt dann erheblich wertiger. Es gibt viele recht großflächige Kunststoffteile, die eher billig klingen, wenn man mit dem Fingernagel dagegen trommelt. Nicht, dass ich jetzt der große Finger-Trommler wäre, es sind aber alles Punkte, wo es doch mit wenig Aufwand besser geht…
Leider geht es bei der Elektrik weiter: Man sieht die orangen Kabel, was ja an- und für sich okay ist. Aber sie sind doch recht lieblos verlegt. Zudem rechtsseitig Kabel, wo die Schutzhülle mehrere cm vor dem Stecker endet. Und ein, tja, was war es… Codierstecker? Da sah man einzelne Litzen. Es hat mich an alte Klischees über Italiener und Elektrik erinnert.
So, ab hier wird es nur noch besser!
2. Die ersten Meter
Erst mal im Menü volle Leistung und volle Reku eingestellt, und dann… Herrlich sattes Drehmoment! Kenn ich von der Ribelle, die davon noch ne Schüppe mehr hat. Und dann das Handling - ein Traum! Tiefer Schwerpunkt, gut ausbalanciert, absolut neutrales Einlenkverhalten. UND GENAU DAS HATTE ICH IN MEINEN 3 JAHREN ENERGICA VERMISST. Die Experia fährt sich auf den ersten Metern quasi wie ein Mountainbike. Gedacht, gelenkt, gefahren. Dieses Verhalten bleibt bis etwa 110km/h gleich, soweit eben wie ich es testen konnte. Die Ribelle liegt zwar noch satter auf der Straße, sie braucht aber mindestens 40 oder 50km/h, um danach erst neutraler zu werden. Und sie lenkt sich nicht so leicht. Die Experia zeigt das spielerisch-leichte Lenkverhalten** quasi aus dem Stand schon. Das konnte auch meine GS nicht besser!
** siehe Kommentar zum LKL unter 4.
3. Sound (mancher nennt es „Geräusch“)
Energicas haben eine untersetzte e-Maschine mit gerader Stirnrad-Verzahnung. So ein Getriebe macht ein charakteristisches Geräusch. Persönlich würde ich mir wohl Nabenmotoren wünschen, weil elektrisch fahren verbinde ich immer noch mit Geräuschlosigkeit. Aber beim Fahrer kommt doch weniger an, als bei den Passanten. Vor mir hat jemand eine 3min-Fahrt unternommen. Ich stand mit drei anderen bei der Abfahrt daneben - wir schauten uns an und ich sagte dann: „Kennt man eine, kennt man alle. Identische Lautstärke.“. Gemeint war der Bezug zu meiner Ribelle. Aber wie gesagt - als Fahrer ist es subjektiv ein deutlicher Fortschritt. Sie klingt eindeutig leiser. Ich habe mich bei der Ribelle nicht nur an das Geräusch gewöhnt - ich mag es mittlerweile auch (hat aber gedauert ). Klanglage ist gleich, nur leiser.
4. Fahrwerk
Sensibel ansprechend mit sehr geringen Losbrechkräften, und mit 150mm gleich mal 30mm mehr Federweg als das Öhlins-Fahrwerk der Ribelle. Und das ist auf Deutschlands Nebenstraßen auch sehr gut brauchbar! Beim Bremsen taucht die Gabel sehr deutlich ein, da müsste man mal die Druckstufe prüfen. Zug- und Druckstufe sind übrigens getrennt an der Gabel einstellbar, je eines pro Seite. Das Federbein hinten war unauffällig und tat seinen Dienst. Allgemein konnte ich hier nicht viel testen, dafür brauche ich mehr Zeit und unterschiedlichere Straßen. Bin halt Amateur . Auf den Felgen waren Pirelli Scorpion Trail 2 aufgezogen. Die kenne ich schon von meiner BMW, eine mit sechs Jahren vielleicht etwas ältere Reifenkonstruktion – ist aber auf jeden Fall noch up to Date und man kann es damit ordentlich krachen lassen. Zudem haben sie einen guten Nässe-Grip und man muss sie nicht großartig warm fahren.
Der Lenker wirkte auf mich sehr direkt. Jede kleine Bewegung kam unmittelbar an. Ich bin da schon so einige Motorräder gefahren, die sich indirekter oder gar teigiger gelenkt haben. Nur leider war das Lenkkopflager einen Hauch zu fest angezogen - merkt man besonders beim freihändigen Fahren. Ich habe da traumatische Erlebnisse mit meiner früheren EsseEsse 9 und bin daher diesbezüglich sensibel… Wenn das penibelst eingestellt ist, dann fährt sie sich sicherlich noch neutraler (geht das überhaupt?!).
Gehört zwar nicht hierher, ist aber irgendwo auch Teil des Fahrwerks (na ja, doch eher des Rahmens): Der Ständer. Der Vorführer hatte nur den Seitenständer, im Konfigurator kann man aber deutlich einen Hauptständer erkennen. Und da, wo der Hauptständer verschraubt ist, hat der Vorführer Befestigungsaugen. Mein Händler konnte nicht sagen, ob da nun der Hauptständer kommt, oder nicht. Tatsache ist: Er ist im Zubehör jetzt Stand September 2022 gar nicht gelistet. Mein Tipp: Hauptständer wird es im Zubehör von Energica selbst geben.
5. Restliche Ausfahrt
Das Fahren war wirklich ein Gedicht – sie ist absolut souverän zu bewegen und über jeden Zweifel erhaben. Dazu, ich erwähnte es oben bereits, fährt sich wirklich wie ein Mountainbike. Die 260 Kilo mögen erst mal abschreckend klingen, sobald sie rollt, ist davon aber nichts mehr zu spüren. Beschleunigung musste ich natürlich auch mal testen – da steht sie der Ribelle eigentlich nicht viel nach. Auf dem Papier hat sie zwar lediglich 115 Newtonmeter anstelle 215 bei der Ribelle (okay, das ist auch abartig viel ), aber ich frage mich, ob hier nicht auch eine möglicherweise andere Übersetzung mit rein spielt. Jedenfalls ist das, was davon auf der Straße ankommt, *fast* ebenbürtig. Rekupertation beziehungsweise Motorbremse ist hingegen doch deutlich weniger als bei der Ribelle. Das mag aber auch eine Konfigurationsfrage sein, was sich mit der Serie nochmal ändert. Mit ein wenig vorausschauendem Fahren können die mechanischen Bremsen auf einer normal gefahrenen Tour ungenutzt bleiben. Eigentlich schade, weil die Brembos wieder ein absolutes Gedicht sind! Sehr fein dosierbar, sehr knackiger Druckpunkt und insgesamt wenig Handkraft - das mag ich sehr! Mit dem ABS ist Energica wieder eine Entwicklungs-Generation weiter, zumindest sind die Regelintervalle feiner, als sie ohnehin schon bei der Ribelle waren. Vollbremsung von 100km/h sind ohne Angst machbar, das Bike bliebt gut beherrschbar. Ach ja, bevor ich es vergesse: die serienmäßigen Heizgriffe sind genauso wie bei den anderen Energica-Modellen eigentlich zu schwach. Die werden leider nicht richtig heiß. Ich kann nicht verstehen, warum die dann noch im Menü in drei Stufen RUNTER-regelbar sind. Auf kleinster Stufe merkt man nix, nada, niente.
6. Reichweite / Verbrauch
No comment. Weiter kommt momentan keine Elektrische. Hatte bei 20°C und nach eher aggressiver Fahrweise Landstraße bei 82% SOC angezeigte 212km Restreichweite (also 258km bei 100%). Noch Fragen??
6. Preis
Man kann es nicht schönreden: Das ist einfach scheißviel Geld! Muss jeder für sich wissen, ob man so viel in sein Hobby investiert.
Es macht daher keinen großen Sinn, den Preis zu zerlegen oder verteidigen zu wollen. Es gibt aktuell die Energica nur als Launch Edition mit sinnvoller und vernünftiger Serienausstattung. Bei der Preisentwicklung, den die gesamte Automobilindustrie zur Zeit mitmacht, weiß ich nicht, was sich 2023 so tun wird. Billiger wird es jedenfalls nicht. Und ich erspare mir hier auch den Vergleich zur Zero DSX/R - das würde für Zero nur unvorteilhaft enden (mit Koffersatz und max. Ladelösung 12kW liegt sie noch drüber). Und darum geht es hier ja auch gar nicht.
Und macht bitte nicht den 393EUR-Fehler, dass ihr die Keyless Option wählt. Das kann Energica einfach nicht. Keyless Go funktioniert manchmal nur nach dem zweiten Tastendruck. Oder dem dritten. Oder manchmal eben auch sofort. Oder man bekommt alle 20km den Fehler “key not in range” und muss mit Druck auf okay quittieren. Bezieht sich alles aber auf die Ribelle, die Experia von heute hatte Schlüssel und es ist natürlich auch gut möglich, dass das "Ribelle-Problem" mit der Experia verschwunden ist.
7. Resümee
Hab ja oben schon einiges zur Verarbeitungsqualität geschrieben. Das war sicherlich unfair, da es sich hier um ein Vorserienfahrzeug handelt. Und es ist auch logisch, dass man mit viel mehr Verkleidung natürlich auch mehr Kunststoff um sich herum hat und es dann schneller wie ein Plastikbomber wirkt. Das Design gefällt mir persönlich aber sehr gut – ich sehe da viel Ähnlichkeit mit der Ducati Multistrada. Design können die Italiener eben gut! Trotzdem ist sie immer noch eigenständig genug. Die Seitenansicht finde ich weniger gelungen. In dieser Perspektive betonen die Verkleidungen rund um den Akku dessen Rechteckigkeit. Nun ja, das ist halt so – ich weiß nicht, ob man das Design noch gefälliger hätte hinbekommen können. Bei meiner Ribelle sieht es zumindest ein wenig dynamischer aus und die Konturen des Akkus sind optisch besser kaschiert. Trotzdem finde ich persönlich das Gesamtpaket sehr gefällig.
Enerigca‘s Peak in Bezug auf Qualitäts-Anmutung stellt die Experia in meinen Augen mit dem Vorführer noch nicht so ganz dar, das verkörpert aktuell schon eher die Ribelle.
Der Umstieg ist trotz allem für mich wirklich eine Überlegung wert… mal sehen, ob ich die Ribelle angemessen verkauft bekomme UPDATE: Verkauft
That’s it for the day! So long!!
PS: Habe einige Bilder gemacht, besonders von den von mir kritisierten Stellen. Ich schreibe das hier auf dem iPad, schon das erste Bild wird mir beim Versuch des Einfügens als zu groß abgelehnt. Habe jetzt wirklich keine Lust mehr, auch noch an den Bildern rum zu basteln, bitte seht es mir nach! Vielleicht hole ich das die Tage mal vom Mac aus nach.